Die digitale Predigt - in der digitalen Gemeinde




Von Sebastian Würth, Pastor FEG Olten


Anfang November war es wieder soweit: predigen vor leeren Stühlen. Wirklich keine Freude. Im Gegenteil. Es fehlt so viel von dem, was das Predigen zum schönen Privileg macht. Kein zustimmendes Nicken, keine Gesichter die einem signalisieren zuzuhören. Ein leerer Gottesdienstraum ist ernüchternd. Gottesdienst als Feier und sakrale Stimmung sucht man vergebens.


Erst wenn die Menschen fehlen, merkt man, was die Menschen ausmachen. Deshalb ist es auch so bitter, wenn unsere Gemeinde durch die sinkende Verbindlichkeit (lange vor Corona) menschenleerer werden. Da sein, dabei sein, sich sehen kann durch nichts ersetzt werden. Die „digitale Gemeinde“ ist daher immer eine Krücke!

Und doch: die digitale Gemeinde ist nicht Bits and Byts, sondern Fleisch und Blut. Die Predigt verschwindet hinter der Kameralinse nicht in einem digitalen schwarzen Loch, sondern findet den Weg zu den Menschenherzen. Und das ist die Gute Nachricht. Sie findet den Weg sogar teilweise besser.

Ein erster Grund dafür liegt daran, dass man sich heute Glaubensfragen, denen man skeptisch oder kritisch gegenübersteht, nicht mehr gerne direkt von Gesicht zu Gesicht anhört. Der Andere könnte ja anfangen zu missionieren oder nicht mehr aufhören, was noch schlimmer ist. Oder aber, das Gegenüber merkt, dass ich mich interessiere, und man will nicht, dass das Gegenüber merkt, dass ich mich interessiere. All diese Hürden entstehen, wenn man einen Gottesdienst besucht. All diese Hürden fallen, wenn man die Predigt heimlich, still und leise im Internet ansieht. Die digitale Predigt kann über soziale Mauern springen, was die Präsenzpredigt nicht kann. Einige nahestehende Menschen, die meinem Glauben kritisch gegenüberstehen, sind mir ein Beispiel für dieses Phänomen. Wenn wir uns sehen, wird nicht über den Glauben geredet. Dieses anstössige Thema wird ausgeklammert. Und doch weiss ich, dass sie hin und wieder eine Predigt von mir im Internet anschauen.

Ein zweiter Grund, warum die digitale Predigt besser sein kann, liegt am Prediger selbst. Tony Reinke (Lesetipp), ist ein christlicher Journalist und Medienexperte. Er sagt, dass die Hemmschwelle in der digitalen Welt tiefer ist als «face to face». Deshalb gibt es all die erschreckenden Hasskommentare.

Ich möchte folgende Punkt festmachen: Da die Hemmschwelle, die Wahrheit zu sagen, im Präsenzgottesdienst manchmal zu hoch ist, kann sie im Internet auf ein Mass sinken, das gesünder ist. Auf die Frage: Kann ich noch das sagen, was ich sagen möchte? lautet meine Antwort mittlerweile: Ja, es gelingt mir besser. Es ist nicht zu unterschätzen, wie die Anwesenheit kritischer Zuhörer, das Hochziehen der Augenbraue, das Tuscheln usw. einen Prediger hemmen können, klare Worte zu verwenden, die eben auch mal nicht willkommen sind. 

Fazit: Die digitale Predigt ist nötige Krücke (wer mag schon Krücken?), aber sie hilft, an neue Orte zu gelangen. Wie gut!

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